Die wandernden Kolosse von Rapa Nui

Vor knapp 400 Jahren, am Ostersonntag 1722, erblickten holländische Seefahrer vor der Küste Chiles einen Flecken Land, der noch auf keiner Karte verzeichnet war – die Osterinsel. Bis heute gibt das abgelegene Eiland viele Rätsel auf. US-Wissenschaftler glauben nun, eines davon gelöst zu haben. In der Fachwelt ist ihre These jedoch höchst umstritten.

Ruckeln wie ein Kühlschrank: US-Wissenschaftler haben eine neue These vorgestellt, auf welche Weise die Statuen auf den Osterinseln transportiert wurden. (c) AG Carl Lipo
Ruckeln wie ein Kühlschrank: US-Wissenschaftler haben eine neue These vorgestellt, auf welche Weise die Statuen auf den Osterinseln transportiert wurden. (c) AG Carl Lipo

Carl Lipo versteht es, seine Forschungsergebnisse publikumswirksam in Szene zu setzen. Vor fünf Monaten hat die Wissenschaftszeitschrift Nature ein Video des US-Anthropologen auf YouTube eingestellt. Nach 11 Tagen zählte das Filmchen bereits 100.000 Aufrufe; inzwischen sind es knapp 300.000.

Die 1:47 Minuten langen Sequenz ist in der Tat faszinierend: Sie zeigt eine riesige Steinfigur, die langsam einen leicht abschüssigen Schotterweg entlang humpelt. Lipos Mitarbeiter haben an ihrem Kopf Seile befestigt, mit denen sie die Statue unter rhythmischen Rufen hin und her schaukeln. Eine andere Gruppe verhindert derweil mit einem dritten Seil, dass der Koloss auf den Bauch fällt.

Die Figur, die dort über den Boden Hawaiis wandert, ist die maßstabsgerechte Nachbildung eines Moai – so heißen die berühmten Steinfiguren auf der Osterinsel, rund 3.500 Kilometer vor der chilenischen Küste.  Mehr als vier Tonnen wiegt die Replik, und sie soll einer These Gewicht verleihen, mit der Lipo und seine Kollegen inzwischen weltweit Aufsehen erregen: Die Moai seien nicht liegend transportiert worden, sondern aufrecht stehend – ganz ähnlich, wie man bei einem Umzug den Kühlschrank an die richtige Stelle der Küche ruckelt.

Die Moai bestehen aus vulkanischem Tuffgestein. Die Einwohner von Rapa Nui (so lautet der polynesische Name der Osterinsel) stellten sie in einem Krater im Südosten der Insel her – sie arbeiteten die Figuren mit scharfen Basaltbeilen aus dem weichen Tuff heraus. Zwischen 1000 und 1500 nach Christus entstanden auf Rapa Nui so etwa 900 Statuen. Nach Fertigstellung brachten die Insulaner die Kolosse oft über etliche Kilometer bis zu ihrem endgültigen Ziel.

Wie sie das schafften, ist bis heute ein Rätsel: Die Figuren waren bis zu 10 Meter hoch; die schwersten wogen mehr als 80 Tonnen. Vielleicht ist die Lösung tatsächlich so einfach, wie Carl Lipo sie in seinem Youtube-Video zeigt. Die Argumente, die er zusammen mit seinen Kollegen Terry Hunt und Sergio Rapu Haoa im „Journal of Archeological Science“ vorlegt, klingen zunächst einmal ziemlich plausibel.

Auf der Osterinsel gibt es ein prähistorisches Wegenetz, das vermutlich unter anderem dem Transport der steinernen Riesen diente. Entlang dieser Wege finden sich mehr als 60 Statuen. Lipo vermutet, dass sie beim Transport gestürzt waren und nicht mehr aufgerichtet werden konnten. Man habe sie daher zurücklassen müssen.

Diese gestürzten Kolosse weisen Lipo zufolge allesamt eine Besonderheit auf, die der Wissenschaft bislang augenscheinlich entgangen ist: Sie hatten eine schiefe Basis. Dadurch lehnten sie stark nach vorne. Sie konnten also nicht ohne Hilfe stehen – sie wären auf ihre charakteristische Nase gefallen. Am endgültigen Ziel wurde diese Basis augenscheinlich so bearbeitet, dass sie nun flach war. Erst danach konnten die Inselbewohner die Kolosse auf Stein-Plattformen (den so genannten Ahu) aufstellen, ohne befürchten zu müssen, dass die Moai kippten.

Lipos Transportidee funktioniert nur aufgrund dieses kleinen Unterschieds zwischen Transport- und endgültiger Form. Denn durch die vorgebeugte Haltung der Moai war es ein Einfaches, die Figuren auf der Kante zwischen Basis und Bauch hin und her zu schaukeln – genauso, als würde man den Kühlschrank schräg stellen, um ihn leichter durch die Küche ruckeln zu können. Die Reibung zwischen Figur und Weg sei so minimiert worden, vermuten die US-Forscher. Anders als ein Kühlschrank waren die Steinbildnisse zudem nicht eckig, sondern hatten einen runden Bauch. Die Kante, auf der sie lehnten, war also wie die Kufe eines Schaukelstuhls geformt. Das habe es noch leichter gemacht, die Statuen hin- und herzuschaukeln.

Für diese Theorie sprechen auch mündliche Überlieferungen der Insulaner, nach denen die Moai laufen konnten. Lipo und seine Kollegen waren allerdings nicht die ersten, die den Steinfiguren den aufrechten Gang beibringen wollten. Der berühmte norwegische Anthropologe Thor Heyerdahl war bereits Ende der 1980er Jahre auf eine ähnliche Idee verfallen. Er hatte seine Versuche jedoch nicht mit Lipos „Transport-Form“ der Statue durchgeführt. Entsprechend durchwachsen war der Erfolg gewesen.

Mit der „Transport-Form“ hätte es dagegen tatsächlich funktionieren können, sind Lipo und seine Kollegen überzeugt. Ihre Experimente mit der Moai-Nachbildung auf der Insel Hawaii scheinen das auch zu belegen. Manche Kenner der Materie sehen das jedoch anders. „Für die Theorie spricht nicht mehr als für viele andere Hypothesen, weil echte Beweise für Lipos Annahmen einfach fehlen“, sagt etwa Andreas Mieth von der Universität Kiel, der seit vielen Jahren auf der Osterinsel forscht. Dass das Experiment im YouTube-Film mit einer Betonfigur durchgeführt wurde, hält Mieth für einen methodischen Schnitzer. Das Material der Originale sei wesentlich fragiler.

Noch deutlicher wird Gerardo Velasco, promovierter Ingenieur und ehemaliger Direktor des Verbandes für Wirtschaftsförderung auf Rapa Nui. „Die Studie von Lipo und seinen Kollegen ist in meinen Augen fast eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand“, sagt er. „Wenn Sie einen 10-Tonnen-Moai aus weichem vulkanischen Tuff über eine Distanz von zehn Kilometern oder mehr wandern lassen, kommt am Ziel nur noch der halbe Körper an. Für Einheimische ist diese Vorstellung geradezu lächerlich.“

Der Kieler Osterinsel-Experte Andreas Mieth gesteht den US-Forschern immerhin zu, sich interessante Gedanken zu machen. Er stört sich allerdings an dem großen Bild, das die US-Anthropologen von der Geschichte des kleinen Eilands zeichnen. Lipos Moai-Studie bildet darin nur einen Mosaikstein – allerdings einen wichtigen.

Als die ersten Polynesier in Rapa Nui anlandeten (nach Meinung der meisten Forscher gegen 800 nach Christus), war die Insel komplett von Palmenwäldern bedeckt. Zwischen 1250 und 1550 nach Christus verschwanden diese nahezu komplett. Manche Wissenschaftler vermuten, dass der Statuenkult für diesen Verlust mit verantwortlich war oder ihn zumindest beschleunigt hat. Denn zum Transport der steinernen Riesen sei jede Menge Holz nötig gewesen – für Fahrzeuge, etwa hölzerne Schlitten, oder aber für Rollen, auf die die Moai gelegt wurden.

Carl Lipo und seine Kollegen bezweifeln das: Für den Transport der Moai habe man lediglich Seile gebraucht; Bäume – wenn überhaupt – dagegen nur wenige, schreiben sie. Der Vegetationswandel ist aus ihrer Sicht nur zum Teil auf die menschliche Nutzung der Inselressourcen zurückzuführen. Zwar hätten die Insulaner den Wald damals gerodet, um Ackerflächen zu gewinnen. Ebenso schuldig seien aber die von ihnen mitgebrachten Ratten gewesen: Diese hätten massenhaft die Nüsse der Palmen gegessen und so ein Nachwachsen der Bäume verhindert. Der Ökosystemforscher Mieth hält das für ausgemachten Unsinn. „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Ratten zum Untergang des Waldes beigetragen haben“, sagt er. „Nach unseren Forschungsergebnissen ist es sicher, dass allein der Mensch für den Vegetationswandel verantwortlich war.“

Die Frage nach dem Schuldigen ist auch deshalb so brisant, weil die Osterinsel lange Zeit als Paradebeispiel für einen menschgemachten ökologischen Super-GAU diente. So lebten auf dem abgelegenen Eiland einst wohl mehrere tausend Menschen; 1877 waren es nach einer amtlichen Zählung nur noch 110. Dass der Raubbau der Polynesier an der Natur dafür verantwortlich war, bezweifeln heute jedoch viele Wissenschaftler – so auch Andreas Mieth: „Inzwischen steht eindeutig fest, dass es nach dem Verschwinden der Wälder nicht zum Kollaps der Osterinsel-Kultur kam“, betont er. „Die Lebensbedingungen sind vielleicht härter geworden; die Bewohner haben sich daran jedoch durch neue Anbaumethoden angepasst.“

Für die Siedler fatal war dann wohl aber der Kontakt zu den Europäern, von denen die ersten am 10. April des Jahres 1722 auf Rapa Nui anlandeten (gesichtet hatten sie die Insel bereits 5 Tage zuvor, am Ostersonntag – daher auch der Name Osterinsel). Spätere Besucher brachten Krankheiten auf die Insel, versklavten die Bevölkerung, töteten Führungsschicht, Priester und Lehrer und tragen so wohl die Verantwortung für den dramatischen Bevölkerungsrückgang – wie so oft, wenn Entdecker aus der alten Welt mit neuen Kulturen in Kontakt kamen.

(erschienen in den Kieler Nachrichten)

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