Psychologen oder Psychiater, die ihren Beruf aus persönlicher Betroffenheit wählen: eine gute Idee? Offenbar schon. Zumindest scheinen sie mit größerem Einsatz bei der Sache zu sein.
56 Jahre lang hatte sich Michael Freudenberg auf seinen guten Schlaf verlassen können. Im August 2003 war es damit vorbei. Immer häufiger erwachte er schon in den frühen Morgenstunden und konnte nicht wieder einschlafen. Abends wälzte er sich im Bett hin und her und grübelte: Was hätte am vergangenen Tag besser laufen können? Wie konnte er sein Arbeitspensum bewältigen, wenn er weiterhin so schlecht schlief?
Die dunklen Gedanken begannen, sein Leben zu bestimmen. Es gab Nächte, in denen er kaum noch ein Auge zumachte. Ihn quälten innere Unruhe und Ängste. Dazu kam das Gefühl, den Anforderungen seines Berufs nicht mehr gewachsen zu sein. Fünf lange Monate verheimlichte er seinen Zustand. Dann brach die Fassade zusammen, weil er nun auch körperlich völlig am Ende war. Er suchte einen Internisten auf – er dachte, es könnte an der Schilddrüse liegen. Doch der tippte auf etwas Psychisches.
Der Arzt behielt Recht, Freudenberg hatte eine Depression. Nicht ungewöhnlich, immerhin trifft die Erkrankung jeden sechsten Bundesbürger. Ungewöhnlich ist eher, dass Freudenberg seine Symptome nicht selbst deuten konnte: Er arbeitete damals als Oberarzt in einem Klinikum in Neustadt – als Psychiater, mit 26 Jahren Berufserfahrung. „Diese Bagatellisierungsversuche – das ist nichts Schlimmes, das wird schon wieder – scheinen eine Begleiterscheinung der Krankheit zu sein“, sagt er.
Psychiater sind gegen psychische Erkrankungen genauso wenig gefeit wie Zahnärzte gegen eine dicke Backe. Doch nicht nur das: Augenscheinlich erkranken sie selbst sogar überdurchschnittlich häufig. Wissenschaftler des Universitätsklinikums Ulm befragten 2005 die Teilnehmer eines Psychiatrie-Kongresses; mehr als 44 Prozent gaben an, bereits mindestens einmal depressiv gewesen zu sein. Demnach sind sie fast dreimal so oft betroffen wie der Bevölkerungsschnitt (dort liegt die Quote bei 15 bis 20 Prozent).
Warum das so ist, ist schwer zu sagen. Vielleicht liege es an der hohen Belastung, die der Beruf mit sich bringe, spekuliert Michael Freudenberg. Möglicherweise hätten Psychiater aber auch bestimmte Persönlichkeitsvoraussetzungen – etwa ein besonders ausgeprägtes Einfühlungsvermögen –, die sie für die Krankheit anfälliger machten.
Eine aktuelle Studie aus den USA zufolge könnte es noch einen weiteren Grund geben: Vielleicht wählen manche Seelenärzte ihren Beruf, weil sie bereits selbst eine psychische Erkrankung durchgemacht haben. Teilnehmer waren rund 600 Psychologen, Psychiater und Therapeuten, die sich auf die Behandlung von Essstörungen, Angsterkrankungen oder bipolaren Störungen spezialisiert hatten.
In einem anonymen Online-Fragebogen sollten sie unter anderem angeben, ob sie selbst bereits an der entsprechenden Krankheit gelitten hatten – und zwar vor ihrer Berufswahl. 43 Prozent beantworteten diese Frage mit ja. (Die Forscher befragten übrigens auch Polizisten, interessanterweise mit ganz ähnlichem Ergebnis: 45 Prozent aller Ordnungshüter berichteten, sie seien selbst Opfer eines Verbrechens geworden, bevor sie ihren Beruf ergriffen hätten.)
Die US-Forscher fragten allerdings nicht, ob diese persönliche Erfahrung für die Berufswahl ausschlaggebend gewesen war. „Ich halte das jedoch durchaus für wahrscheinlich“, betont die Erstautorin der Studie Lauren Eskreis-Winkler.
Mehr noch – sie hält es auch für eine gute Idee, seinen Beruf aufgrund eigener Betroffenheit zu wählen. Grund ist ein zweites Resultat der Studie: Diejenigen Befragten, die auf parallele Erfahrungen zurückblicken konnten, gaben an, in ihrem Beruf besonders engagiert zu sein. Die Autorinnen sprechen von einer „survivor mission“: Wer Schweres durchgemacht hat, setzt sich häufig mit großem Engagement dafür ein, anderen dasselbe Schicksal zu ersparen oder zumindest zu erleichtern. Ob allerdings ein besonders engagierter Psychiater oder Polizist in seinem Beruf auch überdurchschnittlich gut ist, kann die Studie nicht beantworten.
Michael Freudenberg erkrankte erst, nachdem er schon lange Jahre als Psychiater gearbeitet hatte. Seine Einstellung zum Beruf oder sein Umgang mit den Patienten habe sich durch die Depression nicht geändert. „Ich werde das immer wieder gefragt, würde es aber verneinen.“ Allerdings erzählt er Patienten manchmal von seinem eigenen Leidensweg. „Mein Beispiel zeigt, dass selbst ein Psychiater krank werden kann – aber, vor allem, auch wieder gesund! Und damit gelingt es mir leichter, Kranke zu einer Therapie zu bewegen.“
Seit ihn die Krankheit vor nunmehr 11 Jahren auf kaltem Fuß erwischte, geht er daher mit seiner Krankheitsgeschichte konsequent an die Öffentlichkeit. Ebenso lange sucht er zudem nach Kollegen, die Ähnliches durchgemacht haben wie er und ähnlich offen damit umgehen möchten – bislang ohne jeden Erfolg. „Dabei raten wir unseren Patienten immer, ihre Krankheit nicht zu verstecken“, sagt er.
Freudenberg will zeigen, dass die Depression jeden treffen kann, und ihr dadurch das Stigma nehmen. Das ist seine persönliche „survivor mission“. „Solange mir noch jemand sagt, meine Offenheit sei mutig, solange liegt bei unserem Umgang mit diesem Leiden noch etwas im Argen.“
(erscheint in Psychologie heute)