Süße Pein

Viele Menschen setzen sich freiwillig Situationen aus, die mit Schmerzen verbunden sind – beim Extremsport, beim Essen eines scharfen Currys, beim Sex. Warum ist das so?

Für Hendrik Garbers ist der Schmerz ein guter Bekannter. Viermal hat der 44-jährige Lüneburger bereits an einem Ironman-Triathlon teilgenommen; persönliche Bestzeit: 9 Stunden 20 Minuten. Gelitten hat er eigentlich immer, mal mehr, mal weniger. „In einem Wettkampf ist der gesamte Körper unter Hochlast“, sagt er. „Die Lunge brennt, die Muskeln werden hart. So wirklich dolle weh tut zwar nichts, solange man nicht überpaced. Aber man ist kurz davor.“ Manchmal kommt es dann vor, dass er beim Laufen oder auf dem Rad laut zu stöhnen beginnt. Und dass er sich fragt: Warum mache ich das überhaupt?

Garbers ist mit seinem Hobby nicht allein: Die Deutsche Triathlon Union, der offizielle Dachverband, zählt fast 60.000 Mitglieder. Genauso viele Frauen und Männer haben hierzulande im vergangenen Jahr einen Marathonlauf durchgestanden. Ausdauersportarten stehen also augenscheinlich durchaus hoch im Kurs. Doch warum tun die Aktiven sich das an? Warum fordern sie sich Hochleistungen ab, bis es weh tut? Weshalb setzen sich Menschen überhaupt freiwillig Schmerzen aus – beim Sport, beim Essen eines scharfen Thaicurrys oder auch beim Sex?

Man könnte sich auch eine noch viel grundlegendere Frage stellen: Warum ist Schmerz eigentlich unangenehm? Sicher, wir müssen es schon mitbekommen, wenn unsere Hand auf der heißen Herdplatte schmort oder der Hammer nicht nur den Nagel trifft, sondern auch die Finger, die ihn halten. Andererseits: Wenn der Terminator von der Eisenstange seines Kontrahenten durchbohrt wird, dann registriert er das doch auch und versucht, den Schaden zumindest notdürftig zu reparieren. Leiden tut er darunter aber nicht. Wieso ist das bei uns anders?

Allzu schwierig ist die Antwort darauf nicht: Der Terminator ist für den Kampf optimiert. Wir dagegen fürs Überleben. Schmerz erfüllt daher grundsätzlich zwei Funktionen: Einerseits meldet er an unser Gehirn, dass irgendetwas im Körper falsch läuft. Andererseits hält er uns dazu an, aus dieser Empfindung Konsequenzen zu ziehen: Zunächst einmal dadurch, dass wir möglichst schnell die Ursache der Pein beseitigen. Und dann, indem wir künftig die Situation meiden, die uns den Schmerz beschert hat. Schmerz lässt uns also schleunigst die Hand von der heißen Herdplatte ziehen, bevor das Gewebe ernsthaften Schaden nimmt. Er bringt uns aber auch dazu, künftig beim Kochen vorsichtiger zu sein: learning by burning.

Die Wissenschaftlerin Susanne Becker von der Balgrist Universitätsklinik der Universität Zürich bezeichnet Schmerz als eine multidimensionale Empfindung: Seine sensorische Komponente sagt uns, wo es uns weh tut und wie stark. Sein motivational-emotionaler Anteil bestimmt dagegen, wie wir auf den schmerzhaften Reiz reagieren – ob er uns so sehr stört, dass wir alles dafür tun, ihn so schnell wie möglich loszuwerden, oder ob wir ihn gar nicht so schlimm finden und vielleicht sogar ganz gern aushalten. „Diese Komponenten beeinflussen sich gegenseitig“, betont Becker. „Wenn mir Schmerz Angst macht, weil ich zum Beispiel denke, dass er auf eine lebensbedrohliche Verletzung hinweist, dann sorgt das dafür, dass ich ihn noch einmal intensiver wahrnehme.“ Und diese gesteigerte Wahrnehmung bewirkt dann wiederum, dass ich ihn umso dringender abstellen möchte.

Wie sehr und in welche Richtung uns Schmerz motiviert, scheint unter anderem vom sogenannten Belohnungssystem abzuhängen. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Schaltkreisen im Gehirn, die bei Tieren und Menschen das Verlangen erzeugt, eine Erfahrung zu wiederholen. Der Neurotransmitter Dopamin schwingt in diesem Prozess den Taktstock – er aktiviert die Belohnungs-Schaltkreise. Er sorgt so zum Beispiel dafür, dass Kleinkinder, die einmal vom Eis der Eltern schlecken durften, ihre Ärmchen künftig immer nach dem süßen Naschwerk ausstrecken. Dopamin wird oft als Glückshormon bezeichnet; eigentlich ist es aber eher fürs Wollen zuständig als fürs Genießen. Nach einem unangenehmen Erlebnis sinkt der Dopaminspiegel dagegen in der Regel; wir vermeiden es dann tunlichst, eine solche Situation noch einmal durchzumachen. „Dopamin ist daher ein wichtiges Lern-Signal“, betont die Psychologin Siri Leknes, die an der Universität Oslo die subjektive Schmerzwahrnehmung erforscht.

Diese enge Kopplung zwischen negativen Erfahrungen und sinkendem Dopaminspiegel lässt sich jedoch durchbrechen. In diese Richtung deutet zumindest eine Studie, die schwedische Wissenschaftler der Universität Linköping vor einigen Jahren durchgeführt haben. Sie schalteten in den Hirnzellen von Mäusen die Antenne für ein bestimmtes Signalmolekül aus – die MC4-Rezeptoren. In der Folge änderte sich die Reaktion der Nager auf unangenehme Reize wie Schmerzen oder Fieber. Beispielsweise setzten die Forscher die Tiere in einen Käfig mit zwei Kammern, die die Mäuse frei betreten und verlassen konnten. In einer davon bekamen sie eine schmerzhafte Injektion. Tiere mit intaktem MC4-Rezeptor mieden diesen Raum daraufhin am Tag danach. Anders die Mäuse mit ausgeschaltetem Rezeptor: sie suchten ihn genauso häufig auf wie die zweite Kammer.

Noch deutlicher war die Verhaltensänderung, wenn die Spritze nicht Schmerzen, sondern Fieber auslöste: Dann bevorzugten Mäuse ohne intakten Rezeptor den Injektions-Raum sogar – ein Befund, der die Wissenschaftler selbst überraschte. Warum war das so? Um diese Frage zu beantworten, untersuchten die Forscher die Dopamin-Konzentration im Gehirn ihrer Versuchstiere. Mit einem interessanten Ergebnis: Nach der Fieber-Spitze sank bei Nagern mit intaktem MC4-Rezeptor in einem Teil des Belohnungssystems die Dopamin-Menge. Das erklärt vermutlich, warum sie den Raum danach mieden. Ganz anders bei der Gruppe ohne Rezeptor: Sie schüttete nach der Injektion größere Mengen des Botenstoffs aus; ihr Belohnungssystem wurde also aktiviert. Die MC4-Rezeptoren scheinen also zu kontrollieren, wie das Belohnungssystem auf negative Erfahrungen wie Schmerzen oder Fieber reagiert. „Im Endeffekt fungieren sie als Torwächter“, schreiben die Autoren der Studie: „Sie verhindern, dass unangenehme Signale eine Belohnungsreaktion auslösen.“

Auch beim Menschen entscheidet das Belohnungssystem darüber mit, wie wir unangenehme Erfahrungen bewerten. Dass dabei der Kontext eine große Rolle spielen kann, dokumentiert eine Studie der Norwegerin Siri Leknes und der Oxforder Schmerzforscherin Irene Tracey. Sie hatten vor einigen Jahren insgesamt 17 Männer und Frauen für ein Experiment ins Labor gebeten. Dort klebten sie ihren Teilnehmern ein elektrisches Heizelement auf den Innenarm, das sie auf verschiedene Temperaturen erwärmten konnten – auf 39 Grad (angenehm warm), auf 49 Grad (moderat schmerzhaft) und auf 53 Grad (unangenehm schmerzhaft). Dann schoben sie ihre Probanden in einen Hirnscanner.

Darin wurden die Versuchspersonen einer Abfolge von Hitze-Reizen ausgesetzt. Wenn sie dabei mit einer angenehmen Temperatur rechneten, stattdessen aber überraschenderweise mit dem 49-Grad-Reiz malträtiert wurden, bezeichneten sie die unerwartete Hitze in der Regel als schmerzhaft. Ganz anders sah es aus, wenn sie den 53-Grad-Reiz erwarteten: Wurden sie dann mit einer Temperatur von 49 Grad überrascht, empfanden sie diese nun als durchaus angenehm. Leknes und Tracey bezeichnen das auch als „hedonic flip“: Eine Umkehrung der subjektiven Bewertung für ein- und dieselbe Erfahrung. Und dieser „Flip“ zeigte sich auch in der Hirnaktivität der getesteten Frauen und Männer. Zwei wichtige Areale, die für die Schmerzverarbeitung zuständig sind, waren bei ihnen jetzt deutlich weniger aktiv als zuvor. Ihr Gehirn verarbeitete den 49-Grad-Reiz also völlig anders als im ersten Teil des Experiments, und zwar allein aufgrund der veränderten Erwartung.

Doch woran liegt das? Auch auf diese Frage liefert die Studie eine Antwort: Wurde der Arm der Versuchspersonen nicht auf 53 Grad, sondern überraschenderweise nur auf 49 Grad erwärmt, dann liefen bei ihnen Teile des Belohnungssystems zur Hochform auf. Dieser Effekt wiederum sorgte für Änderungen im Gehirn, die dann wiederum die beobachtete reduzierte Aktivität der Schmerz-Zentren zur Folge hatten – auch das zeigen die Scanner-Daten. Die Experimente dokumentieren also einerseits, dass Erleichterung über unerwartet geringe Schmerzen ein potentes Schmerzmittel ist. Und zweitens, dass sie sogar zur Folge haben kann, dass wir Schmerzen positiv bewerten.

Dazu kommt noch ein weiterer Effekt: Unser Körper produziert während und nach einer schmerzhaften Erfahrung selber Wirkstoffe, die analgetisch (also schmerzlindernd) wirken. Die wohl bekanntesten von ihnen sind die Endorphine, Substanzen, die mit dem Morphium verwandt sind. Sie können sich an die so genannten Opioid-Rezeptoren im Körper heften und verhindern dann die Weiterleitung von Schmerzreizen. Gleichzeitig versetzen sie uns in Euphorie. Endorphine haben es auch bei Laien zu einer gewissen Berühmtheit gebracht: Sie gelten als Mitverursacher des Hochgefühls, das sich nach einem langen Lauf einstellt – des „Runner’s High“.

Möglicherweise zu unrecht. Davon ist zumindest Johannes Fuß überzeugt, der am Universitäts-Klinikum Hamburg-Eppendorf einige interessante Studien zu dieser Thematik durchgeführt hat. „Wir wissen zwar schon seit den 1980er Jahren, dass beim Joggen der Endorphin-Spiegel im Blut steigt“, sagte er. „Außerdem war bekannt, dass Opioide wie Morphium oder Heroin euphorisierend wirken. Damit lag der Schluss nahe, dass die Endorphine im Blut dafür verantwortlich sind, was beim Runner’s High im Gehirn passiert.“ Das Ganze hat nur einen Haken: Die Blut-Hirn-Schranke ist für Endorphine undurchlässig; die körpereigenen Drogen können also nicht aus dem Körper ins Gehirn gelangen. Fuß hat kürzlich Ausdauersportlern ein Medikament verabreicht, das das Opioid-System blockiert. Erstaunlicherweise kamen die Teilnehmer beim Laufen dennoch in Hochstimmung.

Vielleicht ist also für das Runner’s High eine ganz andere Substanzklasse verantwortlich, die in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt ist – die Endocannabinoide. Auch sie stimulieren im Körper bestimmte Rezeptoren und wirken dadurch analgetisch. Ihren Namen verdanken sie der Hanfpflanze (lateinisch Cannabis), deren Wirkstoffe ebenfalls an die Endocannabinoid-Rezeptoren binden können. Sie werden daher inzwischen in manchen Ländern als Medikament gegen chronische Schmerzen eingesetzt. Bekannter dürften sie vielen Menschen aber für ihre Wirkung auf die Stimmung sein, die die Bestandteile des Hanfs zu einem beliebten Rauschmittel machen.

Die noch unveröffentlichten Daten der Hamburger Wissenschaftler zeigen, dass bei ihren Test-Joggern der Endocannabinoidspiegel nach einem Lauf anstieg. Jeder Dritte von ihnen empfand zudem einen Zustand der Euphorie, darunter auch Läufer, die zuvor einen Blocker für Opioid-Rezeptoren genommen hatten. Die Endorphine konnten bei ihnen also nicht für das Hoch verantwortlich sein. Gestützt wird dieser Befund durch eine Studie, die Fuß und seine Kollegen bereits 2015 durchgeführt haben. Darin hatten sie Mäuse einige Kilometer in einem Laufrad rennen lassen. Bei den Tieren erhöhte sich daraufhin der Blutspiegel des Endocannabinoids Anandamid. Sie zeigten sich zudem unempfindlicher gegenüber Schmerzen und weniger ängstlich – zwei Hauptmerkmale eines Runner’s High. Beide Effekte blieben aus, wenn die Wissenschaftler die Endocannabinoid-Rezeptoren der Nager blockierten.

Mäuse, bei denen die Rezeptoren dauerhaft nicht funktionieren, verlieren übrigens mit der Zeit die Lust am Laufen. „Endocannabinoide wirken nicht nur schmerzlindernd, sondern stimulieren – ebenso wie Endorphine – zusätzlich das Belohnungssystem, indem sie die Ausschüttung von Dopamin anregen“, erläutert Johannes Fuß. Das ist vermutlich auch ein wichtiger Grund, warum viele Menschen sich so gerne verausgaben. „Laufen ist immer anstrengend, selbst wenn man gute Beine hat – eigentlich würde man lieber gehen“, sagt der Lüneburger Triathlet Hendrik Garbers. „Aber ich fühle mich danach einfach gut. Das ist jeden Tag meine Motivation, rauszugehen und Sport zu treiben.“

Wie stark die körpereigenen Substanzen zudem gegen Schmerzen wirken, zeigt ein Aufsatz, den Wissenschaftler des Vereinigten Königreichs im vergangenen Jahr im „British Journal of Anaesthesia“ veröffentlicht haben. Darin beschreiben sie eine Schottin, bei der aufgrund zweier Mutationen der Abbau des Endocannabinoids Anandamid gestört ist. Die Frau namens Jo Cameron war den Ärzten aufgefallen, als sie wegen einer Arthritis am Daumen operiert wurde. Trotz des äußerst schmerzhaften Eingriffs erhielt sie danach nur etwas Paracetamol. Für sie war das nicht weiter ungewöhnlich. Wenn sie sich am Herd verbrenne, merke sie das nicht, weil es weh tue, sondern am Geruch, sagte sie später einem Journalisten der Zeitung „The Guardian“. Und der sei ziemlich offensichtlich: „Ich bin Veganerin; in meinem Haus wird sonst kein Fleisch gebraten.“ Cameron hat angeblich auch schon „Scotch Bonnet“-Chilischoten gegessen und danach lediglich kurzzeitig ein „angenehmes Glühen“ im Mund verspürt. Die Zuchtform ist mehr als 50 mal so scharf wie Tabasco-Sauce und gilt als eine der schärfsten Chili-Sorten der Welt.

Stephan Kühne kennt sich mit scharfem Essen aus. Es gibt ein Video, in dem er eine unscheinbar aussehende Currywurst verzehrt, sichtlich erschöpft, dunkle Ringe unter den Augen, einen Plastikbeutel mit kaltem Wasser im Nacken. Das war vor sechs Jahren, bei der (so die Organisatoren) „1. Schärfe-Weltmeisterschaft in Berlin“. Die Wurst war damals nicht das Problem, sondern die Sauce, in der sie lag: Sie hatte angeblich einen Schärfegrad von 7,7 Millionen Scoville-Einheiten. Hätte man davon fünf Esslöffel in einem 25-Meter-Pool voller Wasser verrührt, hätte eine trainierte Zunge die Schärfe noch herausschmecken können. „Es hat sich angefühlt, als hätte man mir ein glühendes Stück Kohle in den Mund gelegt“, erinnert sich Kühne. „Das war einfach nur unangenehm.“ Mit der Zeit habe er den Schmerz zwar verdrängt und ihn kaum noch wahrgenommen. „Es ist aber nicht so, dass man dann ein High erlebt. Man ist einfach froh, wenn es vorbei ist.“

Solange sich die Schärfe eines Gerichts in Grenzen halte, sei das anders – dann könne er das schon genießen. „Wissenschaftler sagen ja auch, dass man viel mehr schmeckt, wenn man scharf isst, weil dadurch die Rezeptoren auf der Zunge empfindlicher werden.“ Tatsächlich hat der australische Sozialpsychologe Brock Bastian von der Universität Melbourne diesen Effekt vor einigen Jahren in einer Reihe von Experimenten nachweisen können. Seine Versuchspersonen sollten darin unter anderem sechs verschiedene Aromen auseinanderhalten. Zuvor hatte Bastian manche der Probanden gebeten, ihre Hände so lange wie möglich in eiskaltem Wasser zu baden. Sie konnten die Geschmacksstoffe später noch in deutlich niedrigeren Konzentrationen identifizieren als die Kontrollgruppe. Der Psychologe erklärt diesen Befund mit der grundlegenden Funktion von Schmerz als Alarmsignal. Schmerz warnt uns vor möglichen Verletzungen; wenn uns etwas weh tut, richten wir daher unsere Aufmerksamkeit voll auf die schmerzende Stelle. Und auch, wenn er abgeklungen ist, bleiben wir zunächst wachsam. Dieser These zufolge bringt Schmerz uns also dazu, uns auf unsere Empfindungen zu konzentrieren – er schärft unsere Sinne.

Möglicherweise ist das auch eine Erklärung dafür, warum manche Menschen sich gerne beim Sex Schmerzen zufügen lassen. Doch er ist sicher nicht der einzige Grund für die luststeigernde Wirkung von Peitschenhieben oder Schlägen. Für Tillmann Krüger, Sexualmediziner der Medizinischen Hochschule Hannover, braucht es zum Sex ein gewisses Maß an Spannung. Sadomasochistische Praktiken können ein Mittel sein, diesen Spannungszustand zu erreichen. „Darüber hinaus ist es auch ein Zeichen von großer Intimität, sich der Macht des Anderen auszusetzen – das hören wir immer wieder“, sagt er. Susanne Becker von der Balgrist Universitätsklinik spricht auch von einer Uminterpretation zu etwas Positivem: beim Sex zu einem Ausdruck von Nähe, bei einer schmerzhaften Massage zu dem Zeichen, dass sie uns gut tut. „Durch das, was wir denken, kann unser Schmerzerleben stark beeinflusst werden“, betont sie. Das zeige, dass Schmerz nicht nur eine sensorische und eine emotional-motivationale, sondern darüber hinaus auch eine kognitive Komponente habe.

Die Lust an der schmerzhaften Unterwerfung fußt also auf sehr unterschiedlichen psychologischen Mechanismen. Ganz zentral sei aber das Gefühl der Kontrolle: „Bei sadomasochistischen Praktiken gibt es immer verabredete Stopp-Signale; das ist außerordentlich wichtig“, betont der Sexualmediziner Tillmann Krüger. „Generell gilt, dass wir Schmerzen als sehr viel unangenehmer wahrnehmen, wenn wir uns ihnen ohnmächtig ausgeliefert fühlen.“ Beim Sex, beim Essen eines scharfen Currys, beim Sport können wir selbst bestimmen, wann die Pein endet. Das erleichtert es uns, ihr etwas Positives abzugewinnen. Bei chronischen Schmerzen ist das anders. Das ist auch ein Grund, warum die Betroffenen oft so extrem darunter leiden.

Wie wir Schmerz empfinden, hängt also von vielen Faktoren ab: Ob wir ihn freiwillig ertragen oder nicht. Davon, wie wir ihn deuten. Sogar von unserer aktuellen Stimmung: Ein Lauf durch eine tolle Landschaft und mit unserer Lieblingsmusik auf den Ohren lässt uns die brennenden Muskeln gleich viel leichter ignorieren. Sie alle haben einen Einfluss darauf, welche Botenstoffe das Gehirn ausschüttet und wie es dieses wichtige Warnsignal des Körpers weiterverarbeitet.

Unter Umständen kann es dann sogar sein, dass wir es bedauern, wenn der Schmerz vorbei ist. Der Triathlet Hendrik Garbers erinnert sich noch gut an einen Wettkampf im letzten Juni. In den sechs Jahren zuvor hatte er familiär bedingt nicht mehr soviel trainieren können – eine Tatsache, die er nun deutlich spürte. „Es war superheiß, und mir ging es richtig schlecht – und zwar wortwörtlich, mir war übel“, erinnert es sich. „Nach dem Triathlon fühlte ich mich aber großartig, so groß war die Befriedigung, dass ich es geschafft hatte. Ich fand es fast schade, dass der Muskelkater danach nur zwei Tage anhielt.“

(erschienen in Spektrum Gehirn und Geist)

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