Männer mit breitem Gesicht sind unehrlich; ein langer Ringfinger verweist auf erhöhte Aggressivität; die Drehrichtung der Haare am Hinterkopf erlaubt Rückschlüsse über sexuelle Neigungen: Die Physiognomik – der Versuch, aus äußerlichen Merkmalen eines Menschen auf seine Persönlichkeit zu schließen – scheint ein wissenschaftlich fundiertes Revival zu erleben. Doch was ist an den Erkenntnissen wirklich dran?
Gut möglich, dass Peter Hill seinen langen Ringfingern sein Leben verdankt.
Es war an einem Frühlingstag vor dreieinhalb Jahre. Der heute 71-jährige Brite saß in einem Café und blätterte in den Zeitungen. Sein Blick blieb an einem Artikel hängen, in dem es um eine Studie der University of Warwick ging. Die Fingerlänge von Männern erlaube Aussagen über ihr Prostatakrebs-Risiko, las er. Wenn der Zeigefinger der rechten Hand länger als der Ringfinger sei, sei die Wahrscheinlichkeit zu erkranken um ein Drittel niedriger.
Peter Hill sah auf seine Hände. Seine Ringfinger sind ein gutes Stück länger als seine Zeigefinger. Bedeutete das, dass er ein erhöhtes Krebsrisiko trug? Seit einiger Zeit schon musste er nachts häufiger Wasser lassen. Er hatte deswegen bereits einen Arzt aufgesucht, aus Angst vor einer Prostata-Erkrankung. Der hatte aber nichts festgestellt. Er solle sich keine Sorgen machen.
Doch nun dieser Zeitungsartikel. Hill wollte kein Risiko eingehen. Er fasste den Entschluss, sich noch einmal durchchecken zu lassen. Der junge Arzt, der ihn diesmal untersuchte, nahm ihm Blut ab. Die Probe enthielt eine stark erhöhte Konzentration von Prostata-spezifischem Antigen (PSA). In Hills Alter wäre ein PSA-Wert von 4 normal gewesen; er lag aber fast 25mal höher. Ein hoher PSA-Wert gilt als Indiz für eine Prostata-Erkrankung. Bei Nachfolge-Untersuchungen erhärtete sich der Verdacht: Peter Hill hatte Prostata-Krebs. Er schluckte monatelang Hormone und erhielt danach eine Strahlentherapie. Heute ist der Tumor verschwunden. „Es war sehr knapp“, erinnert er sich. „Der Zeitungsartikel hat mein Leben gerettet.“
Bei einem Blick in die wissenschaftliche Literatur könnte man versucht sein, aus Hills Händen noch ganz andere Zusammenhänge abzulesen: Demnach sind Männer mit langen Ring- und kurzen Zeigefingern aggressiver und neigen häufiger zu Konflikten mit dem Gesetz. Als Schauspieler haben sie eher wenig Erfolg, als Musiker oder Langstreckenläufer dafür umso mehr. Sie trinken mehr Alkohol als andere Männer und greifen seltener zur Zigarette. Sie sind eifersüchtiger, davon abgesehen aber netter zu Frauen. Sie lieben den Nervenkitzel und sind erfolgreichere Börsenmakler.
Für all diese Eigenschaften gibt es Studien, die einen Zusammenhang mit dem Fingerlängen-Verhältnis belegen. Und man könnte diese Liste noch eine ganze Weile fortsetzen. Ein Blick auf die Hand, so scheint es, ist gleichzeitig ein Blick in das Innere des Menschen. Das klingt zunächst nach Humbug. Was sollen die Finger mit Aggressivität, den Trinkgewohnheiten oder Tumoren der Vorsteherdrüse zu tun haben? Was ist das Bindeglied, das diese Beobachtungen miteinander verknüpft?
Die Antwort auf diese Frage findet sich womöglich im Mutterleib. Ab der 8. Schwangerschaftswoche entwickeln sich im heranwachsenden Kind die Finger und Zehen. In dieser Zeit werden auch die Weichen dafür gestellt, wie lang die Finger in Relation zueinander später sein werden. In der 12. Woche gilt dieser Prozess als abgeschlossen. Das Verhältnis der Fingerlängen wird sich von nun an bis zum Tod nur noch unwesentlich ändern – so vermuten es zumindest die meisten Experten.
Das Fingerwachstum des werdenden Kindes wird dabei durch die Sexualhormone gesteuert, denen es in seiner frühen Entwicklung ausgesetzt ist. Wie das genau abläuft, konnten Zhengui Zheng und Martin J. Cohn von der University of Florida im Jahr 2011 zeigen. Eine hohe Testosteron-Konzentration beschleunigt demnach in Mäuse-Emryonen das Wachstum des vierten Fingers (des „Ringfingers“). Eine hohe Östrogen-Konzentration hat den gegenteiligen Effekt. Auf die Länge des zweiten Fingers (des „Zeigefingers“) haben die Hormone keinen Einfluss.
Ein langer Ringfinger im Verhältnis zum Zeigefinger deutet also auf eine hohe Testosteron-Exposition im Mutterleib hin. Der erste, der diese These formulierte, war der Psychologe John T. Manning. Manning ist Professor an der Northumbria University in Newcastle upon Tyne. Er gilt als Begründer der modernen Fingerlängen-Forschung – eines Feldes, das er seitdem intensiv beackert. Und nicht nur er: Seit Manning 1998 seine Arbeit mit dem Titel „The ratio of 2nd to 4th digit length“ veröffentlichte, ist das Gebiet geradezu explodiert. Im Jahr 2011 umfasste die Literatur bereits 450 Publikationen; bis heute kommen im Wochentakt neue hinzu.
Tatsächlich haben die meisten Männer längere Ring- als Zeigefinger. Bei Frauen ist es dagegen umgekehrt, oder ihre Finger sind gleich lang. Peter Hill hat ein besonders niedriges 2D:4D-Verhältnis (2D bezeichnet die Länge des Zeigefingers, 4D die des Ringfingers). Er hat also im Mutterleib viel Testosteron abbekommen. Man weiß seit langem, dass männliche Geschlechtshormone (fachsprachlich Androgene) das Wachstum bösartiger Prostata-Zellen befördern. Vielleicht erklärt das auch den Zusammenhang zwischen Fingerlänge und Krebsrisiko, von dem der Brite an jenem Frühlingsmorgen bei einer Tasse Kaffee las.
Das 2D:4D-Verhältnis gilt als ein Fenster in die Vergangenheit. Das ist es, was viele Forscher fasziniert: Sie können so untersuchen, wie Sexualhormone schon bei ungeborenen Kindern die Weichen für die Zukunft stellen. Und zwar nicht nur hinsichtlich der Anfälligkeit für Tumoren der Vorsteherdrüse. So gilt es heute als gesichert, dass Sexualhormone die Entwicklung fötaler Organsysteme beeinflussen – auch des Gehirns. Ein hoher Testosteron-Spiegel „vermännlicht“ unser Denkorgan. Und zwar permanent.
Wenn dem so ist, müssten „männliche Finger“ mit einer maskulinen Persönlichkeit einhergehen. Tatsächlich beobachteten Forscher aus Ungarn 2003 einen solchen Zusammenhang: Sie vermaßen bei 46 Studentinnen die Hände. Je länger bei den Teilnehmerinnen der Ring- im Vergleich zum Zeigefinger war, desto männlicher zeigten sie sich in Persönlichkeitstests. Frauen mit einem niedrigen 2D:4D-Verhältnis sind zudem häufiger lesbisch. Sie ergreifen öfter Berufe, die als Männerdomänen gelten. Sie erkranken seltener an Magersucht. Umgekehrt leiden Männer mit femininen Händen öfter unter Angsterkrankungen und Depressionen.
Doch je umfangreicher die Datenbasis wird, desto häufiger treten auch Zweifler auf den Plan. Einer von ihnen ist der Psychologe Martin Voracek von der Universität Wien. Voracek hat kürzlich versucht, die Ergebnisse der ungarischen Studie zur Geschlechterrolle anhand eigener Testpersonen nachzuvollziehen – ohne Erfolg. Daraufhin nahm er in einer Meta-Analyse 28 Studien anderer Wissenschaftler unter die Lupe, mit insgesamt mehr als 6.000 Teilnehmern. Ernüchterndes Resultat: Frauen mit männlichen Händen waren keineswegs maskuliner als Frauen mit weiblichen Händen. Männer mit weiblichen Händen waren zwar femininer; der Zusammenhang war aber extrem klein.
Voracek hat inzwischen weitere Metaanalysen veröffentlicht, unter anderem zur Aggression. Männer mit langem Ring- und kurzem Zeigefinger sind demnach im Schnitt zwar minimal aggressiver. 99,6 Prozent der Unterschiede im Aggressionsverhalten lassen sich aber nicht an der Fingerlänge ablesen. Noch ernüchternder sieht es mit einem Wesenszug aus, der im Angelsächsischen „sensation seeking“ genannt wird: der Suche nach Abwechslung, nach dem täglichen Nervenkitzel. Hier fand Voracek nach Auswertung von 13 Untersuchungen aus acht Ländern gar keinen Zusammenhang. Dabei gilt „Sensation seeking“ doch ebenfalls als typisch männlicher Wesenszug (und damit vermutlich durch vorgeburtliches Testosteron gesteuert).
„Persönlichkeitsmerkmale korrelieren nur schwach mit dem 2D:4D-Verhältnis“, gibt auch John T. Manning zu. Aber warum finden manche Wissenschaftler Zusammenhänge, andere dagegen nicht? Ein Grund mag sein, dass es gar nicht so einfach ist, das Fingerlängen-Verhältnis korrekt zu messen. Selbst bei Experten weichen die Resultate oft ganz erheblich voneinander ab, hat der Wiener Psychologe Stefan Dressler schon vor Jahren in einer Studie mit Voracek und Manning festgestellt.
Schlimmer noch: Die verwendeten Messmethoden sind sehr unterschiedlich. Manche Forscher fotografieren die Hände ihrer Probanden und ermitteln die Fingerlängen anschließend auf den Pixel genau am Computer. Andere nutzen modernste Röntgentechniken, um die Handknochen zu vermessen. Einige arbeiten ganz altmodisch mit der Schieblehre am lebenden Objekt. Wieder andere lassen ihre Probanden selbst zum Lineal greifen – die unaufwändigste, aber auch unzuverlässigste Methode. „Je nach Vorgehensweise können ganz unterschiedliche Ergebnisse herauskommen“, betont Stefan Dressler.
Der Psychologie-Professor Martin Voracek zweifelt inzwischen gar eine ganz grundlegende These der 2D:4D-Forschung an: die Annahme, dass das Fingerlängenverhältnis verlässliche Rückschlüsse auf den Testosteronspiegel im Mutterleib erlaubt. Testosteron entfaltet im Körper nämlich erst dann seine Wirkung, wenn es an einen bestimmten Rezeptor bindet. Der aktivierte Rezeptor bewirkt dann, dass bestimmte Gene im Zellkern häufiger abgelesen werden, die dann z.B. das Wachstum des Ringfingers anregen.
Bei manchen Männern ist der Testosteron-Rezeptor mutiert; er ist dadurch unempfindlicher. Bei den Betroffenen wirkt das Testosteron also schwächer. Sie sollten demnach im Schnitt kürzere Ringfinger (in Relation zum Zeigefinger) haben. Zwei umfangreiche Metastudien haben aber unlängst gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Voracek kommen bei diesem Ergebnis grundlegende Bedenken: „Wenn die Empfindlichkeit des Rezeptors keine Auswirkung auf das 2D:4D-Verhältnis hat“, schreibt er, „dann ist es schwierig zu verstehen, wie das Fingerlängenverhältnis verlässlich die Testosteron-Wirkung widerspiegeln kann.“
Unabhängig von dieser Fundamentalkritik werfen Persönlichkeitsstudien oft zusätzliche Probleme auf. So ist es häufig sehr schwierig, die Ergebnisse sauber zu interpretieren. Ein schönes Beispiel dafür liefert ein anderes Körpermerkmal, das möglicherweise Einblick in den Charakter liefert: die Gesichtsbreite. Im Angelsächsischen spricht man auch von facial width-to-height ratio, abgekürzt fWHR. Um die fWHR zu bestimmen, misst man die Breite des Gesichts in Höhe der Wangenknochen und dividiert sie durch den Abstand zwischen Oberlippe und Augenbrauen.
Auch die Gesichtsbreite wird durch Sexualhormone beeinflusst: Ein hoher Testosteronspiegel in der Jugend führt zu einem größeren fWHR-Wert. Männer haben denn auch in der Regel breitere Gesichter als Frauen. Verschiedene Arbeitsgruppen haben in den letzten Jahren untersucht, ob die Gesichtsbreite auch Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlaubt. Und tatsächlich: Männer mit breitem Gesicht sind ersten Befunden zufolge beispielsweise aggressiver und weniger vertrauenswürdig.
Macht uns also Testosteron zu gewalttätigen Lügnern? Der Wirtschaftspsychologe Uwe Peter Kanning, der sich kritisch mit dem Einsatz von Schädeldeutungen bei der Personalauswahl beschäftigt, sieht andere Mechanismen am Werk: „Möglicherweise reagieren Menschen auf breite Gesichter anders als auf schmale“, sagt er. „In einer der Studien sieht man, dass Männer mit breiteren Gesichtszügen sich selbst als machtvoller erleben. Das ist wahrscheinlich ein Effekt der Sozialisation – sie spüren seit ihrer Jugend, dass Menschen ihnen aufgrund ihres Aussehens anders begegnen. Sie sehen: Andere haben Angst vor mir. Oder: Ich kann meine Mitmenschen beeinflussen. Und dadurch verändert sich ihr Verhalten.“
Man könnte von einer selbsterfüllenden Prophezeiung sprechen: Wenn wir das Gefühl haben, dass unser Gegenüber unehrlich aussieht, behandeln wir ihn mit Misstrauen. Wenn nun jemand aufgrund seines Aussehens (z.B. seines breiten Gesichts) immer wieder auf Misstrauen stößt, wird er sich möglicherweise irgendwann einmal tatsächlich unehrlich verhalten.
Der kalifornische Psychologe und Ökonom Michael Haselhuhn hat diesen Effekt zusammen mit seinen Kolleginnen Elaine Wong und Margaret Ormiston tatsächlich nachweisen können. Sie legten Versuchspersonen das Foto eines Mannes vor und baten sie um eine Charaktereinschätzung. In manchen Fällen hatten sie das gezeigte Gesicht zuvor am Computer schmaler gemacht, bei anderen breiter. Hatte der Mann ein breites Gesicht, hielten ihn die Probanden für deutlich egoistischer.
Haselhuhn und seine Kolleginnen fragten sich nun, ob diese Einschätzung eine Auswirkung auf das Verhalten der Teilnehmer hatte. Sie ließen ihre Versuchspersonen in einem Spiel gegen Partner mit unterschiedlicher Gesichtsbreite antreten. Erstaunliches Ergebnis: Die Teilnehmer verhielten sich selbst umso selbstsüchtiger, je breiter das Gesicht ihres Gegenübers war. Sie begegneten dem mutmaßlichen Egoisten also ihrerseits mit Egoismus. Diese eigennützige Spielweise beeinflusste widerum ihre Spielpartner, die sich dann tatsächlich egoistischer verhielten: Die Erwartungshaltung ihrer Umgebung hatte auf sie abgefärbt.
Die Persönlichkeit wird also immer auch durch das soziale Umfeld geformt. Etwaige hormonelle Einflüsse werden so womöglich durch eine Vielzahl anderer Faktoren überlagert. Das erschwert nicht nur die Aufklärung, auf welchen Weg die Botenstoffe unseren Charakter beeinflussen, sondern auch prinzipiell die Entdeckung derartiger Hormon-Effekte. Das könnte auch ein Grund dafür sein, warum die gefundenen Links zwischen Fingerlängen-Verhältnis und Persönlichkeit oft so umstritten sind.
In einem Punkt, bei dem es nicht um die Persönlichkeit geht, ist die Beweislage dagegen ziemlich eindeutig: Menschen mit langem Ring- und kurzem Zeigefinger sind sportlicher – zumindest in Disziplinen, bei denen es auf Kraft und Ausdauer ankommt. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen und wurde in einer ganzen Reihe von Studien bestätigt. Der Zusammenhang ist so stark, dass sich Fingerlängen-Pionier John T. Manning gar von der BBC zu einem spektakulären Test vor der Kamera hinreißen ließ: Manning prognostizierte den Ausgang eines 5.000-Meter-Laufs. Er kannte die Läufer nicht; als Grundlage für seine Wette dienten ihm einzig und allein Fotokopien ihrer Hände. Je niedriger das 2D:4D-Verhältnis, desto eher werde der jeweilige Sportler ins Ziel kommen, sagte Manning voraus.
Der Ausgang der Wette dürfte den Professor gefreut haben: Bei vier der sechs Läufer lag er mit seiner Prognose richtig. Nur Platz drei und vier hatte er vertauscht.
(erschienen in Spektrum Gehirn und Geist)