Alles andere als gesund

Schichtarbeit kann das Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und möglicherweise sogar Krebs erhöhen. Doch einfache Maßnahmen können die Gesundheitsgefahr zumindest senken.

Im Jahr 1993 erhielten sämtliche Krankenschwestern in Dänemark, die zu dieser Zeit älter als 43 waren, einen Brief – insgesamt 23.170 Frauen. Darin wurden sie gebeten, eine Reihe von Angaben zu machen: ob sie die Pille oder sonstige Hormonpräparate nahmen, wie sie sich ernährten, wieviel sie wogen, wie oft sie Sport trieben, ob sie rauchten. Einige Fragen drehte sich zudem um ihren Beruf. So sollten sie unter anderem beantworten, ob sie normalerweise in Tag-, Spät- oder Nachtschicht arbeiteten. Fast 90 Prozent sandten den Bogen ausgefüllt zurück. 1999 erfolgte eine zweite Erhebungswelle; diesmal wurden 10.535 Frauen angeschrieben.

Ursprünglich sollte die Studie Aufschluss darüber geben, ob die Gabe von Hormonen in den Wechseljahren Osteoporose vorbeugen kann und welche Risiken sie gegebenenfalls birgt. Doch die Daten erlauben auch noch einen Einblick in eine ganz andere Fragestellung. Ungefähr zur Zeit der ersten Welle wurde in Dänemark nämlich ein zentrales Register für Diabetes-Fälle aufgebaut. Seitdem werden darin alle Erkrankten namentlich erfasst. Dadurch lässt sich nachvollziehen, welche der Pflegerinnen später an dem gefährlichen Stoffwechselleiden erkrankte. Eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern hat das vor einigen Jahren gemacht und ist dabei auf einen bedrohlichen Zusammenhang gestoßen: Frauen, die regelmäßig in Spätschicht arbeiteten, litten in den Jahren danach um 30 Prozent häufiger an Diabetes. Bei denen in Nachtschicht war das Risiko sogar um 60 Prozent erhöht.

Das Ergebnis reiht sich ein in eine ganze Reihe weiterer beunruhigender Befunde. So steigt bei Krankenschwestern, die zwanzig Jahre oder länger Schichtdienst geleistet haben, das Brustkrebs-Risiko deutlich an. Besonders gefährdet sind Frauen, die schon in jungen Jahren regelmäßig in Spät- oder Nachtschicht arbeiten: Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit einer US-Studie mit mehr als 100.000 Teilnehmerinnen zufolge mehr als doppelt so hoch wie normalerweise. Ähnliche Zusammenhänge gelten möglicherweise auch für andere Krebsarten. Ganz eindeutig ist die Datenlage zwar nicht. Dennoch hat die Internationale Krebsforschungsagentur IARC im Jahr 2019 Nachtschichten als „vermutlich krebsauslösend“ eingestuft. Schichtarbeitende erleiden zudem verschiedenen Studien zufolge häufiger einen Herzinfarkt und versterben insgesamt früher.

„Schichtarbeit ist gefährlich“, betont Dr. Albrecht Vorster, der am Inselspital in Bern an Schlaf-Wach-Störungen forscht. „40 Jahre Schichtarbeit verkürzen das Leben schätzungsweise um sechs bis acht Jahre – ganz exakt ist das allerdings schwer zu beziffern.“ Dennoch setzen sich allein in Deutschland Millionen von Menschen dieser Gefahr aus. 15 Prozent aller Beschäftigten leisten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) zufolge hierzulande Schichtarbeit. Mehr als 9 Prozent arbeiten regelmäßig nachts – also zu einer Zeit, die als besonders ungesund gilt. In der Hauptsache betrifft das Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeberufen, bei der Polizei oder auch Bus- oder Taxifahrer. Aber auch in vielen Industriebetrieben geht es rund um die Uhr geschäftig zu: Es wäre einfach zu kostspielig, die Produktionsanlagen stillstehen zu lassen.

Aus Vorsters Sicht gibt es verschiedene Faktoren, die gerade bei langfristiger Schichtarbeit zu Problemen führen können. Ein wichtiger Punkt: „Schichtarbeitende schlafen in der Regel zu wenig – einfach, weil unser Körper tagsüber nicht so gut zur Ruhe kommt“, sagt er. „Da sie zu einer Zeit ins Bett gehen, in denen sie laut ihrer inneren Uhr eigentlich aktiv sein sollten, ist ihr Schlaf außerdem weniger erholsam.“ Oft arbeiten die Betroffenen zudem zu wechselnden Zeiten – einige Tage früh, dann spät und schließlich nachts. „Das ist wie ein Dauer-Jetlag; die Beschäftigten reisen quasi pemanent um die Erde“, betont Vorster. „In jungen Jahren steckt der Körper das noch einigermaßen weg, aber ab 40 wird das zunehmend schwieriger.“ Bei vielen Schichtarbeitenden verflache dadurch mit der Zeit der innere Rhythmus. Das hat unter anderem Auswirkungen auf den Blutdruck, der normalerweise nachts abfällt. „Dieses sogenannte ‚Dipping‘ geht bei vielen Schichtarbeitenden mit der Zeit verloren“, erklärt Vorster. „Die Blutgefäße stehen bei ihnen dann unter Dauerbelastung.“ Mögliche Folge sind Gefäßschäden – vermutlich ist das ein Grund für die beobachtete Erhöhung des Infarkt-Risikos.

Auch andere Prozesse im Körper haben einen bevorzugten Zeit-Slot. Dazu zählt beispielsweise die Verdauung. So weiß man heute, dass die Insulinmenge, die die Bauchspeicheldrüse ausschüttet, nicht nur von der Blutzuckerkonzentration abhängt, sondern auch von der Tageszeit. „Nachts kann der Körper Zucker daher nicht gut aus der Blutbahn abfangen“, sagt Albrecht Vorster. Das erhöht die Gefahr, übergewichtig oder gar zuckerkrank zu werden. Zumal noch ein weiterer Effekt hinzukommt: Nach einer Nachschicht steigt die Blutkonzentration des Hungerhormons Ghrelin deutlich an, während die des Sättingungshormons Leptin sinkt. „Wenn Versuchspersonen dann vor ein Buffet gesetzt werden, greifen sie vermehrt zu – und zwar vor allem bei Produkten, die viele Kalorien enthalten.“

Doch in vielen Bereichen geht es nicht ohne Schichtarbeit. Was lässt sich also tun, will man die Risiken für die Beschäftigten so gering wie möglich halten? Ein wichtiger Schlüssel liege in der Ausgestaltung der Schichtpläne, erklärt die Arbeitspsychologin Dr. Anna Arlinghaus. „Besonders schlecht ist reine Nachtarbeit – sie ist gar nicht zu empfehlen; sowohl aus medizinischen als auch aus sozialen Gründen. Bewährt haben sich dagegen rotierende Schichten: zwei bis dreimal früh, dann zwei bis dreimal spät und schließlich zwei bis dreimal nachts, gefolgt von einer Ausschlafphase. Das beeinträchtigt Biorhythmus und Sozialleben am wenigsten.“ Arlinghaus kennt sich in der Materie aus: Sie hat kürzlich für die Hans-Böckler-Stiftung einen Bericht verfasst, in dem es um die gesundheits- und sozialverträgliche Gestaltung von Schichtarbeit ging. Inzwischen berät sie bei der österreichischen Firma Ximes Unternehmen bei der Entwicklung von Arbeitszeitmodellen.

Die Arbeitswissenschaft empfiehlt zudem, nicht zu langsam zu wechseln – also etwa eine ganze Woche in der Nachtschicht zu bleiben. „Man könnte zwar meinen, dass sich der Körper in einer Woche besser an Nachtarbeit gewöhnt als in ein zwei oder drei Tagen“, sagt Arlinghaus. „Das ist aber nicht so. Die Forschung zeigt, dass sich der Biorhythmus nicht wirklich umstellt. Stattdessen schläft man an allen Tagen schlechter und weniger und baut dadurch ein größeres Schlafdefizit auf.“ Wichtig ist auch die Richtung der Rotation: Nach vorne (früh – spät – nachts) ist deutlich besser als nach hinten (früh – nachts – spät). Denn so bleibt zwischen den Wechseln eine längere Pause: Wer um 14 Uhr von der Frühschicht kommt, muss erst am nächsten Tag um 14 Uhr zur Spätschicht antreten. Andernfalls ginge es noch am selben Abend in die Nachtschicht – zu wenig Zeit, sich vernünftig zu erholen. Zudem geht die innere Uhr der meisten Menschen zu langsam: Ohne externe Zeitgeber wie das Tageslicht hätten sie eher einen 25- als einen 24-Stunden-Rhythmus. „Auch dadurch fällt ihnen die Umstellung bei der Vorwärts-Rotation leichter“, erklärt Anna Arlinghaus.

Studien belegen den positiven Effekt vorwärts rotierender Schichten. So konnten Forschende aus den Niederlanden bereits 2004 nachweisen, dass Beschäftigte, die in diesem Modell arbeiten, weniger erholungsbedürftig und insgesamt gesunder waren. Daneben zeigten sich auch soziale Auswirkungen: Die Teilnehmer (allesamt Männer) berichteten seltener über familiäre Konflikte als ihre Kollegen in rückwärts rotierenden Schichten. Ähnliche Zusammenhänge ergaben sich in einer Untersuchung, an der Anna Arlinghaus selbst beteiligt war. In ihrem Fokus standen Fahrerinnen und Fahrer im öffentlichen Personennahverkehr. Diejenigen mit vorwärts rotierenden Schichtplänen hatten nicht nur weniger gesundheitliche Probleme, sondern blieben auch (verglichen mit Teilnehmenden, deren Schicht nicht rotierte) mehr als sechs Jahre länger im Fahrdienst.

Der natürliche Rhythmus ist nicht bei allen Menschen gleich: Einige (im Volksmund oft auch als „Lerchen“ bezeichnet) sind schon vor Sonnenaufgang produktiv, andere (die „Eulen“) werden erst nach dem Mittagessen richtig wach. Diese Eigenschaft – Chronotyp genannt – ist ziemlich stabil, lässt sich also kaum ändern. Vor einigen Jahren kam daher der Chronobiologe Professor Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität München auf die Idee, stattdessen die Arbeitszeiten an die innere Uhr anzupassen. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Dr. Céline Vetter ermittelte er den Chronotyp von ThyssenKrupp-Angestellten. Die Versuchspersonen wurden dann so eingeteilt, dass Lerchen nie in Nachtschicht arbeiten mussten, während Eulen nie früh eingesetzt wurden. Das hatte bei ihnen positive Auswirkungen auf Schlafqualität, Wohlbefinden und Zufriedenheit in der Freizeit (Letzteres allerdings nur bei Morgentypen).

Die Arbeitszeit der Beschäftigte sollte deutlich reduziert werden, am besten auf maximal 25 Stunden

Albrecht Vorster

Am wichtigsten findet Albrecht Vorster vom Inselspital Bern aber einen weiteren Punkt: „Schichtarbeit ist eine massive zusätzliche Belastung für den Körper“, sagt er. „Dementsprechend sollte die Arbeitszeit der Beschäftigte deutlich reduziert werden, am besten auf maximal 25 Stunden.“ Stattdessen versuche man, die Mehrbelastung durch eine höhere Entlohnung zu kompensieren. „Und das ist Quatsch.“ Ximes-Mitarbeiterin Anna Arlinghaus sieht das ebenso: „Das ist ein Thema, den wir schon seit Jahren in die Betriebe zu bringen versuchen: weniger finanzielle Anreize für Schichtarbeit zu schaffen, dafür aber mehr Zeit für einen Belastungsausgleich.“ Früher sei diese Idee auch an den Mitarbeitenden gescheitert. „Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass die Belegschaft weniger auf das Geld schaut und ihnen dafür die Freizeit wichtiger wird.“

Für Unternehmen muss diese Maßnahme zudem kein Verlustgeschäft sein, konnte Arlinghaus in ihrem Bericht für die Böckler-Stiftung zeigen: Zusammengenommen kommen die finanziellen Zuschläge für Nachtarbeit Firmen genauso teuer zu stehen wie eine Arbeitszeitverkürzung von 38,5 auf 31,7 Stunden. Durch eine solche Reduktion ließen sich die negativen Effekte von Nacht- und Wechselschichten zwar nicht komplett, aber zumindest zu einem sehr großen Teil kompensieren. In einer Studie beim österreichischen Technologie- und Industriegüterkonzern voestalpine sank bereits nach einer Verkürzung von 38,5 auf 34,4 Wochenstunden der Krankenstand deutlich und nachhaltig. Gleichzeitig nahm auch die Fluktuation der Beschäftigten ab.

Schichtmodelle mit verkürzten Arbeitszeiten könnten auch einen weiteren Nachteil zumindest entschärfen: Weil die Betroffenen oft abends oder am Wochenende arbeiten – also gerade dann, wenn die meisten Menschen frei haben -, bleibt ihnen weniger Zeit für ein normales Sozialleben. „Sie können nicht in Vereinen aktiv sein, weil sich ihre Schichten ständig ändern“, erklärt Albrecht Vorster. „Zu einer Geburtstagsfeier zu gehen oder Bekannte zu treffen, ist für sie viel schwieriger. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass die Scheidungsrate bei Schichtarbeitenden um 50 Prozent erhöht ist.“ Kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich könnten Schichtarbeit so auch deutlich attraktiver machen, meint Arbeitspsychologin Anna Arlinghaus.

Auch die Betroffenen selbst können dazu beitragen, die Gefahren von Schichtarbeit zu reduzieren. „Ein Punkt betrifft die Ernährung: Man sollte während einer Spät- oder Nachtschicht möglichst wenig essen und wenn, dann nur ganz leichte Kost“, betont Arlinghaus. „Also zum Beispiel lieber eine leichte Suppe in der Thermoskanne mitnehmen als sich rasch in der Fastfood-Kette nebenan eine fettige Pizzaschnitte holen.“ Wichtig ist zudem eine strikte Schlafhygiene: Die Haustürklingel abstellen, wenn man ins Bett geht, und eventuell Ohrstöpsel benutzen. Das Schlafzimmer gut Abdunkeln. Vor dem Schlafen nicht noch eine große Mahlzeit zu sich nehmen. „Und natürlich auf Koffein und insbesondere Alkohol verzichten“, betont Arlinghaus.

Albrecht Vorster hält es daher auch für wichtig, die Betroffenen regelmäßig zu schulen – nicht nur um sie für die Gefahren von Schichtarbeit zu sensibilisieren, sondern auch, um ihnen Strategien zu vermitteln, mit diesen Risiken umzugehen. „Auf dem Bau gibt es gesetzlich verpflichtende Sicherheitseinweisungen – dort lernt man beispielsweise, dass man immer einen Helm tragen muss. Beim Umgang mit Gefahrstoffen oder mit Röntgenstrahlen ist das ebenfalls vorgeschrieben; dort muss man die Einweisung sogar alle zwei Jahre wiederholen. Seit den 1960er Jahren kennen wir das Schichtarbeitersyndrom: eine Krankheit, die nach einem potenziell gesundheitsgefährdenden Arbeitsmodell benannt ist. Und dennoch gibt es bis heute keine verpflichtende Sicherheitseinweisung, die darauf abzielt, diese Gefährdung zu minimieren.“

(erschienen in PulsPlus, Optimum Medien)

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